Die Grundstufe ist wie kaum eine andere Phase im schulischen Lernen von Übergängen geprägt.
Für Schüler wie auch Eltern stellt der Eintritt in die pädagogische Institution Schule einen massiven Einschnitt dar. Trifft dies schon für den Bereich der Grundschule zu, so lässt sich unschwer annehmen, dass dieser Einschnitt im Falle des SBBZ Geistige Entwicklung (Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung) von den betreffenden Familien nicht selten ungleich tief greifender, vielfältig problembelastet und mannigfaltig sorgenvoll erlebt wird.
Zu beachten ist zusätzlich, dass die zukünftigen Erstklässler aus den verschiedensten vorschulischen Einrichtungen kommen können. Möglich sind Fördereinrichtungen wie der Regelkindergarten, der Schulkindergarten oder die Grundschulförderklasse. Da keine Kindergartenpflicht besteht ist auch nicht auszuschließen, dass die Kinder überwiegend oder ausschließlich in der Familie gefördert und erzogen wurden. Des Weiteren gilt es Quereinsteiger aus anderen Schularten zu berücksichtigen.
Entsprechend unterschiedliche Haltungen und Beurteilungen seitens der Eltern sind daher in den Blick zu nehmen.
Ist mit dem Schuleintritt so etwas wie die „Fügung in das Unvermeidliche“ verbunden, wird das SBBZ Geistige Entwicklung als vorübergehender, alsbald in Richtung SBBZ Lernen oder gar Grundschule zu verlassender Ort betrachtet?
DAS NETZWERK
Eine Familie mit einem behinderten Kind ist keine behinderte Familie, doch differieren die mit dem Schuleintritt verbundenen Erwartungen und Ängste sehr wahrscheinlich nicht unerheblich von den Familien, deren nicht-behindertes Kind in die örtliche Grundschule aufgenommen wird.
Dabei ist allerdings festzuhalten, dass nicht nur die Sorge eine Rolle spielt, das Kind könnte unterfordert oder auf ganz falsche Art gefordert und gefördert werden, sondern auch die Furcht anzutreffen ist, das Kind könnte die neue, fremde Situation nicht ohne direkte elterliche Unterstützung meistern.
Dies alles lässt die kaum zu überschätzende Bedeutung der Zusammenarbeit mit den Eltern gerade in der Grundstufe deutlich zutage treten.
Eine kontinuierliche Kommunikation auf verschiedensten Ebenen (Mitteilungsheftchen, Telefon, E-Mail, etc.), sowie vor allen Dingen regelmäßige direkte Gespräche unter situativ erforderlicher Teilnahme beteiligter Dritter (KG, Logopädie, Familienangehörige, Fachlehrer, etc.) sind ebenso selbstverständlich wie zusätzliche Angebote ergänzender Art (Videoaufnahmen, Besuche einzelner Unterrichtsphasen/Stunden, etc.) wünschenswert.
Wie unterschiedlich die Sichtweisen von Eltern im Hinblick auf die Einschulung in die verschiedensten Schularten auch sein mögen, eine Bewertung ist ihnen allen gleich:
Aus dem Kind wird ein „Schulkind“.
Wenngleich pädagogische Professionalität es gebietet, diesem Bild der klar abgegrenzten und jeweils abgeschlossenen Phasen das des auf disparater Entwicklung basierenden Kontinuums entgegenzustellen, trägt die Schule den damit verbundenen Wünschen, Hoffnungen, Ängsten und Erwartungen formal doch Rechnung, indem institutionelle Trennungen ebenso vorgenommen wie formale Riten (Einschulungsfeier, etc) tradiert werden.
DIE BASIS
Eine ganz bestimmte Anzahl von Kindern beginnt an einem Tag des Jahres gemeinsam ihre Schullaufbahn.
Erstklässler.
Alles Individuen. Alles Persönlichkeiten.
Jung zwar, mit Potential, mit Möglichkeiten, einem weiten Horizont vor sich.
Aber auch mit Erfahrungen, mit Wissen, Stärken und Schwächen, Vorlieben und Eigenheiten.
Die Offenheit der Entwicklung, das Unbekannte der neuen Situation, Menschen, Orte, Abläufe, bringt es mit sich, dass besonders in der Grundstufe eine Basis geschaffen werden muss für eine möglichst konstruktive, fruchtbare Kombination der einwirkenden Faktoren und der sich mit diesen vertraut-machen-müssenden Persönlichkeiten.
Es muss ein Verhalten vermittelt, eingeübt und verselbständigt werden, dass es einer Gruppe von Menschen an einem vorgegebenen Ort mit übereinstimmend als sinnvoll erachteten Regeln möglich macht konfliktkompetent, gefahrlos, entwicklungsfördernd und, so weit als sinnvoll, harmonisch zusammen zu arbeiten und zusammen zu leben.
Dieser Prozess ist ebenso langwierig und intensiv wie grundlegend und entscheidend für die Entfaltung und Weiterentwicklung der individuellen Persönlichkeit.
Er erfordert eine erhöhte Erziehungsanstrengung im Sinne von gemeinschaftsorientierter Wertevermittlung –
Er erzwingt einen signifikant höheren Aufsichtsbedarf zur anerkannten Durchsetzung notwendiger Einschränkungen und Beschneidungen eines je individuellen Handlungs- und Verhaltensbedürfnisses –
Er befördert eine intensive und kontinuierliche Auseinandersetzung hinsichtlich Verhaltensmodifikation und Regelaushandlung –
denn möglicherweise
- übergehen Kinder die gerechtfertigten Bedürfnisse ihrer Klassenkameraden weil sie sie nicht verstehen, kennen oder schlicht ignorieren.
- laufen Kinder weg, weil sie lieber woanders wären, frustriert sind oder einfach so.
- schlagen sich Kinder, weil sie die Reaktion darauf interessant finden, sich nicht anders zu helfen wissen oder Konflikte schlicht auf diese Weise „erfolgreich“ zu regeln sind.
DIE FREIHEIT
Nicht selten geht mit einer geistigen Behinderung die vollständige oder teilweise Unfähigkeit einher, erfolgreich verbal zu kommunizieren.
Es versteht sich von selbst, dass gerade in diesem Bereich zum frühest möglichen Zeitpunkt Schritte ergriffen werden müssen, um aufbauend auf vorhandene Kompetenzen adäquate Formen kommunikativen Austausches zu finden, zu etablieren und fort zu entwickeln.
Ziel muss es sein, eine möglichst umfassende kommunikative Kompetenz bei gleichzeitig größtmöglicher persönlicher Unabhängigkeit zu erreichen.
Die Palette reicht hierbei von Bildtafeln über elektronische Kommunikationshilfen bis zu einer einheitlichen verbindlichen Gebärdensprache.
Verbale und nonverbale Angebote stehen nicht in Konkurrenz, sondern sind sinnvolle Ergänzungen.
Eine nicht unerhebliche Zahl von Kindern ist zum Zeitpunkt der Einschulung nicht in der Lage, den Toilettengang selbständig und eigenverantwortlich zu absolvieren.
Sie tragen ganztägig oder zeitweise Windeln, können ein dementsprechendes Bedürfnis nicht artikulieren oder müssen regelmäßig zum Toilettengang aufgefordert und eventuell begleitet werden.
Ergibt eine möglichst umfangreiche Abklärung der hierfür verantwortlichen Umstände, dass es grundsätzlich machbar und also der Versuch potentiell Erfolg versprechend ist, diesen Zustand im Rahmen der schulischen Möglichkeiten zu ändern, muss eine zentrale Aufgabe darin bestehen, einen hierfür geeigneten zeitlichen, personellen und sachlichen Rahmen zu schaffen.
So unterschiedlich die genannten Bereiche sind, so sehr eint sie die Klammer des Begriffes der Freiheit.
Kinder, die sich nicht entsprechend ihrer Bedürfnisse und potentiellen Fähigkeiten artikulieren können entbehren ebenso sehr eines wesentlichen Aspektes ihrer Autonomie und Würde wie Kinder, deren Erlebens- und Erfahrungswelt notgedrungen dadurch eingeschränkt ist, dass sie fundamentalen körperlichen Bedürfnissen nicht in einem sozial angemessenen Rahmen nachkommen können.
DER KATALYSATOR
Der Eintritt in die Schule stellt nicht zuletzt deshalb einen markanten Einschnitt in das Leben des Kindes – wie auch der Eltern – dar, weil die folgende Periode in der Regel die langandauerndste formell verbindliche im Bereich institutionell organisierter persönlicher Bildung und Ausbildung darstellt.
Das Gemeinwesen greift per gesetzlicher Regelung in das Privatleben der Familie ein:
Das Kind ist schulpflichtig.
Für die Arbeit in der Grundstufe ergeben sich daraus zwei grundlegende und damit über die Arbeit der darauf aufbauenden Stufen merklich hinausreichende Aufgaben:
Da der Bildungs- und Erziehungsauftrag ein gesellschaftlicher ist, muss es das Bestreben pädagogischer Professionalität sein, eine Gemeinschaft zu etablieren, deren Vertrautheit, Zuverlässigkeit und Akzeptanz in den Neuankömmlingen das Gefühl entstehen lassen, gerne in die Schule zu gehen.
Diese zunächst banal anmutende Anforderung erweist sich in der alltäglichen Praxis als ausgesprochen bedeutsam.
Gerne zu kommen ist keine im Entferntesten hinreichende Legitimation für die Pflicht zum Besuch einer Schule.
Doch die Pflicht zum Besuch der Schule wird sich im reinen Vollzug eines juristischen Aktes erschöpfen, wenn keine Freude damit verbunden ist.
Anders ausgedrückt:
Der Spaß an der Schule ist bei Weitem nicht alles aber ohne Spaß an der Schule ist letztlich alles nichts.
Die Gestaltung einer Klassen- und Schulgemeinschaft und die sich in diesem Rahmen entwickelnde Freude am Besuch der Schule bilden so etwas wie die unerlässlichen Katalysatoren zur erfolgreichen und befriedigenden Absolvierung eines langen und anstrengenden Weges.
DAS GERÜST
Die Arbeit in der Grundstufe basiert selbstredend ganz wesentlich auf der elterlichen Erziehung, wie auch der Arbeit in Kindergarten oder Frühförderung, setzt aber gleichzeitig eindeutige und spezifische konzeptionelle Schwerpunkte der Zusammenarbeit mit den Schülerinnen und Schülern.
Eine Grundstufenkonzeption wird dabei ihren Fokus auf die Bereiche lenken, die natürlich und notgedrungen auch in je anderen Stufen und Phasen der Entwicklung von Bedeutung sind, an dieser Stelle der Lernlaufbahn indes von eindeutig identifizierbar überragender Relevanz sind.
Um diesem komplexen Bereich wechselwirksamer Herausforderungen gerecht zu werden und dennoch anschaulich und konkret handlungsleitend zu bleiben, bedarf es der Selbstbeschränkung bei der Formulierung methodisch-didaktischer, wie auch allgemein pädagogischer Prinzipien.
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben wird sich bei der Arbeit in der Grundstufe der Schule für Geistigbehinderte der Begriff der „Struktur“ als zentrales Ordnungsprinzip herausstellen.
STRUKTUREN
Strukturen bilden dynamische Handlungsrahmen, die den Schülerinnen und Schülern sowohl Sicherheit, Vertrautheit, Orientierung und Geborgenheit geben als auch flexible Grenzen aufweisen, die den Kindern Erweiterungen der bisherigen Erfahrungsräume anbieten und öffnen.
Strukturen sind somit in einem allgemeinen wie auch entwicklungspsychologischen Sinne sowohl konservativ als auch progressiv. Sie definieren die Basis und deren Weiterung, den Start und das Ziel.
Strukturen sind verlässliche Rahmen und gleichzeitig das Handwerkszeug, um diese Rahmen zu modifizieren, zu ergänzen oder gar zu negieren und zu ersetzen.
Die gemeinsame Arbeit besteht darin, diese verlässlichen Rahmen zu vermitteln und erkennbar und das Handwerkszeug verfügbar und in seinen Gebrauchsmöglichkeiten bekannt zu machen, so dass ein Gerüst für die Berechenbarkeit, Alltagsrelevanz und Vertrauenswürdigkeit pädagogischen Handelns entsteht.
Folgende fünf mit einigen wenigen möglichst weit gespannten Beispielen versehenen Strukturelemente kartographieren den schulischen Alltag der Grundstufe:
- Struktur der Räumlichkeit (Orientierung/Ordnung/Zuordnung)
- Orientierung im Schulhaus
- Orientierung der Motorik (von links nach rechts/von oben nach unten, etc.)
- Körperwahrnehmung
- Seriation
- Dimensionalität
- Bewegung
- …
- Struktur der Zeitlichkeit (Endlichkeit/Abfolgen/Dauer)
- Orientierung im Schultag, der Woche
- Anfang und Ende
- Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft
- zuerst-dann
- was war vorher-was ist nachher
- Wachsen und Lernen
- Rhythmus und Takt
- …
- Struktur der Personalität (Selbstbewusstsein/Körperlichkeit/Begrenzung)
- Ich
- Andere
- Was geht von mir aus-Was kommt auf mich zu
- Die Welt und meine Welt
- Die Welt in mir (Gedanken, Gefühle, Empfindungen)
- Ich war-ich bin-ich werde
- …
- Struktur der Sozialität (Beziehungen/Gruppen/Verhaltensweisen)
- Ich und andere/Gemeinschaft
- Bereicherung und Einschränkung
- Freundschaft und Konflikt
- Regeln und Normen
- Brechen von Regeln und Normen
- Ich im Spiegel der Gemeinschaft
- Empathie
- …
- Struktur der Simplizität (Reduzierung von Schwierigkeiten)
- Kommunizieren
- Hilfsmittel erkennen und nutzen
- Der Umgang mit Hilfsmitteln
- Die Sinne – aktiv werden, um Hilfsmittel zu finden
- Eigene Fähigkeiten einschätzen können
- …